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Mein naher Orient

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theatrale kartographie mit spezialisten vor ort

Angenommen, Deutschland wäre ein Einwanderungsland. Angenommen, Max von Oppenheim, einer der bedeutendsten Orientalisten seiner Zeit, Forscher, Ausgräber & Sohn der heute größten Privatbank Deutschlands, schlägt Wilhelm II. 1914 einen Plan zur “Revolutionierung der Gebiete unserer Feinde” vor – indem man den Djihad ausrufen läßt. Wozu mit Hilfe eines osmanischen Scheichs der Koran etwas verbogen werden muß & man gleichzeitig ein sehr zukunftsträchtiges neues Modell lokaler Kriegsführung findet.

September 2005 Forum Freies Theater Düsseldorf

 

SEPTEMBER 2005:

„So sehr der „ferne Orient“ schon immer Auslöser für Faszination durchs Fremde war & dergestalt als Opernstoff oder Abenteuerroman zum kulturellen Kanon gehört, so wenig ist häufig über den „Orient“ vor der eigenen Haustür bekannt, über das aktuelle Leben von Migranten, wie es sich in bestimmten Quartieren der Großstädte abspielt & das häufig nur vermittelt durch Klischees wahrgenommen wird, ohne mit ihm in einen konkreten Austausch zu treten. Für MEIN NAHER ORIENT wollten wir insbesondere mit Kindern & Jugendlichen mit Migrationshintergrund arbeiten, neuen Deutschen der 3. Generation, die noch zwischen Assimilation & Parallelgesellschaft stehen. Denn nach wie vor erscheint es als gravierendes ideologisches Manko der deutschen Mainstream-Gesellschaft, diesen Jugendlichen kaum konkrete Chancen anbieten zu können. Vor diesem Hintergrund ging es uns darum, die Mittel des Theaters einsetzen, um diesen Jugendlichen & ihrer Lebensrealität in Düsseldorf eine besondere Aufmerksamkeit zu ermöglichen & gleichermaßen in den Aufführungen später den Besuchern ihre eigene Stadt aus dem Blickwinkel dieser Jugendlichen zu zeigen – das Unbekannte im scheinbar Vertrauten. Theater hier also sowohl verstanden in seiner Grundeigenschaft als Ort von Kommunikation, Aufmerksamkeitserzeugung & als Infrastruktur, die solches Projekt erst möglich macht, wie auch als künstlerischer Ausgangspunkt zur inszenatorischen Anverwandlung von Realitäten. > ZUR ARBEIT An die Stelle der sonst üblichen Probenarbeit trat in diesem Projekt die Erkundung der Stadt auf der Suche nach Orten des muslimischen Lebens und nach Partnern und Mitwirkenden für unser Vorhaben: Unzählige Telefonate, Suchfahrten & weiteres Herumfragen führten uns in Jugendzentren, Moscheen, Koranschulen. Immer wieder beschrieben wir unser Vorhaben, erläuterten, daß wir nicht von uns aus bestimmen wollen, was geschehen soll, sondern daß wir mit den Kindern & Jugendlichen gemeinsam aus ihrem Leben, aus ihrer Perspektive heraus Material entwickeln werden, welches wir dann, als Theater-Profis, mit ihnen in eine Form bringen werden, die Spaß macht zu präsentieren & das Publikum für sie interessieren wird. Wir stießen dabei auf sehr erfreute & entgegenkommende Betreuer in Jugendeinrichtungen, auf aufgeweckte oder überdrehte, laute oder schüchterne Kids; führten ausführliche Gespräche mit Imams & Gemeindevorstehern aus der Türkei, aus Ägypten oder Marokko. Wir besuchten Hip-Hop-Klassen im Tanzhaus, versuchten die Regeln von Live-Karaoke auf Video zu verstehen & sprachen schließlich mit ziemlich vielen Jugendlichen & ihren Eltern. Eine zentrale positive Grunderfahrung dabei war, daß die meisten von ihnen ihre Identität als Deutsche mit bspw. türkischen, mazedonischen oder iranischen Eltern vollkommen selbstverständlich annehmen. Es gibt für sie ein Land, aus dem die Eltern kommen, in dem man viel in den Ferien ist & wo man Familie besucht – & es gibt ein Land, in dem sie ihren eigenen Mittelpunkt sehen, ihre Freunde aus allen anderen Nationen haben, in dem sie ihre Ausbildung machen & wo sie leben wollen. „Multikulti“ ist für diese Kinder & Jugendlichen so normal, daß sie den Begriff gar nicht erst bemühen müssen. > ZUR FÜHRUNG MEIN NAHER ORIENT präsentierte sich dem Publikum als Expedition durch Düsseldorf: Die Führung übernahm ein spezieller Stadtführer, der den Weg durch die Stadt als Reise per Karawane durch den alten Orient beschrieb – vorbei an Basaren & großartig verzierten Toren ging es hinaus in die Wüste, zu den wilden & unerforschten Beduinen, zu Erzählungen über Blutrache & den Bau der Bagdadbahn mit deutschem Geld, in die Moschee & ihr Teehaus, wo deutsche Propaganda aus dem ersten Weltkrieg zur „Revolutionierung der muslimischen Gebiete unserer Feinde“ zu Gehör kam, bis hin zur Ausgrabungsstätte Tell Halaf inmitten eines neuen Büroparks. Die Vorlage dieser Figur des Schauspielers basierte maßgeblich auf den Reiseberichten Max von Oppenheims, berühmter Orientforscher, Diplomat & Ausgräber des wilhelminischen Deutschland, sowie auf Passagen aus Karl Mays Orientromanen, die sich beide kannten. Auf diesen Reisen – per Straßenbahn, S-Bahn, zu Fuß & per Taxi – geriet die Karawane der Zuschauer immer wieder in unerwartete Situationen mit „Einheimischen“. Die Jugendlichen erwarteten sie in ihrem Park, in ihrer Wohnstraße oder in der U-Bahn-Station & zogen sie in ihre Wirklichkeit hinüber: Unmittelbar nach den Ausführungen zur Blutrache bei den Beduinen (inmitten gleichförmiger Wohnblocks erläutert), sahen sie sich hinter der nächsten Biegung im Park von unbekannten Kindern aufgefordert gegen sie Flag-Football zu spielen. Ein Spiel voll komplizierter Regeln, welches eigentlich nur die Kids beherrschen. Während diese peu a peu immer mehr Erwachsene an ihrer Stelle aufs Spielfeld schickten, gingen sie selbst an den Rand, bis nur noch Erwachsene gegeneinander spielten. Von hier aus übernahmen sie die Rolle der Schiedsrichter & verquickten diese mit gegenseitigen Selbstdarstellungen – verdichete Mini-Porträts, aus denen ihre Sehnsüchte & Ängste sichtbar wurden, ihre Phantasie & ihr Realitätssinn. Welche schließlich in selbst komponierte Rap-Songs überleitete. Die Karawane zog weiter per S-Bahn & nachdem die Zuschauer in einer Moschee dem Gebet zuschauen & dem Imam Fragen stellen konnten, woraufhin sich die von dem Schauspieler Martin Bross vorgetragene historische Propaganda im Tee-Raum anschloß, wurden sie mit Taxen zur nächsten Kinderstation transportiert. Hier warteten die Jüngsten auf sie: Vier Kinder, welche inmitten der Hinterhöfe, Treppenhäuser & dem Brachgelände ihres Wohnumfelds den Zuschauern eine wilde Geschichte zwischen 1001 Nacht & Fantasy-Roman erzählten, vorspielten & sie dabei immer weiter in die Welt aus ihrer eigenen Perspektive hineinzogen. Wo Monster & Prinzessinnen neben echt wahren Geschichten von Elektro-Dieben, Polizeihubschraubern & Kinderleichen auftraten. Die reale Umgebung, welche auf den ersten Blick kaum in konventionelle Vorstellungen von kindgerechtem Umfeld zu passen scheint, entpuppt sich so als schillernde Vorlage für kindliche Phantasie, die sich all das anverwandelt & zu eigen macht. Vom Abenteuerspielplatz wurden die Besucher zur Ausgrabungsstätte inmitten eines neuen Büroparks gebracht, wo dann auch der Führer sich im Wiederentdecken alter Reminiszenzen verlor. So daß sie per Audio-Guide ihren Weg zur nächstgelegenen U-Bahn-Station finden mußten, wo die Stimme eines Mädchens in ihren Kopfhörern sie zu einer bestimmten Position lotste. Dort sahen sie plötzlich in einiger Entfernung inmitten der die Station durcheilenden Fahrgäste zwei Mädchen tanzen – zu genau der Hip-Hop-Musik, die sie selbst über Kopfhörer hörten. Dazu die Stimmen der Mädchen, wie sie jeweils von sich selbst erzählen. Während die meisten Passanten den Zusammenhang nicht bemerkten, war die Gruppe der Erwachsenen, die mit Kopfhörern dort standen & fasziniert in eine Richtung schauten, ein skurrileres Bild als die beiden tanzenden Mädchen. Von dort aus ging es per U-Bahn & Fußweg über die Königsallee als heutigen Basar zurück zum Theater: Die Zuschauer wurden ins Foyer geführt, wo sie bereits alle Kinder & Jugendlichen, welche sie unterwegs als Schauspieler erlebt hatten, in einem Beduinen-Zelt erwarteten. Bei Tee & türkischer Finger-Food sahen die Besucher sich selbst als Akteure in einem Film, den sie auf ihrer Reise durch die Stadt „gedreht“ hatten: Von ihnen unbemerkt war der Gruppe in einigem Abstand ein Kameramann gefolgt, der sie jeweils in Einstellungen klassischer Karl-May-Verfilmungen aufgenommen hatte. Dazu lief die entsprechende Musik aus diesen Filmen, wodurch tatsächlich die Atmosphäre eines „typischen“ Karl-May-Films entstand – allerdings im heutigen Düsseldorf & mit den Theaterbesuchern als Akteuren. Die Besucher, welche auf der Tour bis dahin vor allem andere beobachtet hatten, erkannten nun sich selbst als ebenso Beobachtete – & die Zuschauer dieses Films waren nun außerdem die mitwirkenden Kinder & Jugendlichen. > ZU DEN AKTEUREN in der Reihenfolge ihrer Auftritte: Onur: Ich würde die Hakan-Mark einführen, alles wäre nur noch 1 Cent wert. Und 1 Cent ist 10 Stunden Arbeit. Alles Geld muß man sich schwer verdienen. Hakan: Ich mach Flag-Football, Fußball, Handball, Völkerball, Laufen, all so was. Meine Oma, mein Vater, mein Mutter, der Freund meiner Mutter & alle, die mich kennen – das ist meine Familie. & meine Familie muß unsterblich sein. Enrico: Meine Oma will, daß ich Arzt werde. Hab ich aber keinen Bock, mir wird schlecht schon vom eigenen Blut. Mein Vater sagt, ich soll Richter werden, meine Mutter sagt Rechtsanwalt, weil ich so viel rede. Mein Vater, mein Onkel, mein anderer Onkel, mein kleiner Bruder, mein Cousin & noch von meinem Vater ein Freund – wir rappen alle. Selim – spielt gern Fußball & fährt schon ziemlich gut Auto. Ali: Ich will zaubern können & wünsche mir eine eigene Villa. Ich habe 2 Schwestern & 3 Brüder & will Fußballer werden. In echt aber Chef einer Spielzeugfabrik. Für Billards, Flipper & Playstations. Sabri – baut hervorragende Baumhäuser, macht Karate & läuft gern mit Stollen-Schuhen durch die Gegend. Kennt alle, bis nach Oberbilk. Yazemin: Ich habe 3 Brüder & 4 Schwestern. Ich wünsche mir Hunde & Katzen. & vielleicht eine Schildkröte. Später will ich mal Zahnärztin werden. Oder was mit Computern. Oder bei was bei Burger King oder MacDonalds. Dann kann ich alles dort essen. Immer. Negin: Ich zeichne gern Mangas & will Mode-Design studieren. Wissen finde ich wichtig. Umso mehr Wissen, umso bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Vicki: Ich finde es geht darum, daß man weiß, daß es noch was anderes gibt. Auch wenn man das nicht sehen kann. & wichtig sind Freunde & Familie. Muß nicht immer Geld sein. > ZU MAX VON OPPENHEIM 1860 wird Max von Oppenheim in Köln geboren, 1870 entdeckt Schliemann den „Schatz des Priamos“, 1883 reist Oppenheim zum ersten Mal nach Kleinasien & Konstantinopel, nachdem eine illustrierte Ausgabe von „1001 Nacht“ seine lebenslange Faszination für den „Orient“ geweckt hatte. Ab 1886 lange Aufenthalte im „Orient“ – u.a. lebt er in Kairos Altstadt, lernt Arabisch, geht immer wieder auf private Reisen & Forschungsexpeditionen durchs osmanische Reich & den nordafrikanisch-arabischpersischen Raum. Insbesondere die Beduinen beschäftigen ihn zeitlebens, es bilden sich dauerhafte Freundschaften. 1896 – 1909 ist Oppenheim am deutschen Generalkonsulat in Kairo. Obwohl hervorragender Kenner der Kultur & trotz seiner außergewöhnlichen Kontakte zu verschiedensten Führern des gesamten Raumes, wird seine Berufung immer nur für ein Jahr verlängert. Er verfaßt unzählige Berichte, wird schließlich von Wilhelm II. empfangen, gelobt & bleibt zeitlebens fester Anhänger des Kaisers. Auch von dessen großträumender Kolonialpolitik. 1899 entdeckt er in Syrien am „Tell Halaf“ Zeugnisse einer ca. 3000 Jahre alten aramäischen Siedlung, welche er von 1911 – 1913 weitgehend auf eigene Kosten ausgraben wird. 1904 legt er eine sehr umfassende Studie zur „Entwicklung des Gebietes der Bagdadbahn unter Nutzanwendung amerikanischer Erfahrungen“ von Anatolien bis in den Irak vor, welche unter finanzieller Führung der Deutschen Bank gebaut werden wird. 1914 legt er dem Auswärtigen Amt seine geheime „Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ vor: Durch Ausrufung eines Djihad (offiziell durch osmanische Geistliche) & flankierende Propaganda-Tätigkeiten sollen im gesamten islamisch geprägten Raum vom Irak bis nach Pakistan die deutschen Kriegsgegner in ihren Kolonien geschwächt werden. Es gibt heutige Forscher, die behaupten, daß damit das moderne Konzept eines umfassenden „Djihad“, welcher nicht mehr der offenen Kriegsführung zur Verteidigung dient, sondern guerillahaft Jeden jederzeit treffen kann, mit deutscher Hilfe begründet wurde. Oppenheim wird erster Leiter der „Nachrichtenstelle für den Orient“, welche Propagandamaterial für islamische Länder erarbeitet, sowie Nachrichtensäle zu deren Verbreitung unterhält. Monatszeitschriften sind „Neuer Orient“ & „El Dschihad“, ansonsten werden auch Comics & Filme verbreitet. Zwischen den Kriegen richtet Oppenheim, wieder mit privatem Geld, ein eigenes Museum für seine Tell-Halaf-Funde in Berlin ein. Auch Hitlers Auswärtigem Amt legt er seinen Dschihad-Plan vor. Doch man verfolgte dort bereits eigene, ähnliche Ideen. 1939 versucht er vergeblich (Göring hatte 30.000 Mark beigesteuert) noch einmal zum Tell Halaf zu gelangen. Das Museum sowie der Großteil seiner Orient-Bibliothek mit 40.000 Bänden wird in den Angriffen des 2. Weltkriegs weitgehend zerstört. 1946 stirbt Oppenheim. 1899 hatte Karl May Oppenheim in Kairo besucht. Seine ersten Bücher spielen quer durch die „orientalische“ Welt auf der arabischen Halbinsel, viele Passagen zeigen große Ähnlichkeit mit Oppenheims „Vom Mittelmeer zum persischen Golf“ aus demselben Jahr. Die Texte des Expeditions-Führers (Martin Bross) sind weitgehend diesem Werk von Oppenheim entnommen, sowie Karl Mays Durch die Wüste.“ MEIN NAHER ORIENT von & mit: Martin Bross, Onur Cetinoglu, Sabri, Selim & Yazemin Cirak, Ali Demirci, Max Huettermann, Hr. Kiziltan & die Diyanet Merkez Camii / Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., Vicki Krieger, Iskender Kökce, Ömer Kuzur, Jörg Lukas Matthaei, Hakan Pugaca, Negin Sorabi, Enrico Zümrüt u.a. Produktion: Forum Freies Theater Düsseldorf, gefördert vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf, im Rahmen des Projekts “Der Neue Orient” der rheinland ag Bonn, Köln, Düsseldorf, Duisburg