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PRESSE: MISSING LINK

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taz, 22.07.2009

Zeitreisende und Hoffeger

ROLLENTAUSCH

Es beginnt mit großer Verlangsamung, fast wie in einem der Wartesäle, die der Regisseur Christoph Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock so gerne einrichten. Nur dass diesmal der beinahe leere Saal, in den die Zuschauer in kleinen Gruppen geführt werden, ein Fundstück ist und original so existiert in einer alten Sozialeinrichtung in Berlin. Langsam, geradezu erstaunlich entschleunigt im Verhältnis zum Takt des Alltags, nähern sich die Darsteller des Thikwa-Ensembles den Besuchergruppen, die von geheimen Treffpunkten aus hierher gebracht wurden. Sie zupfen an der Kleidung der Zuschauer, vermessen mit Schnur deren Körpergröße, dirigieren sie hierhin und dorthin, und ziemlich bald ist klar: Ein runder Abend wird das nur, wenn wir, die Zuschauer, die Rollen annehmen, die uns zugedacht sind.

Ich gehöre zur Gruppe der „Riesen-Algetten“, die zuerst in das Labor für Zeitreisende geführt wird. Mittels eines halben Besenstiels stellen wir Kontakt zu einem Energiefeld aus gespannten Seilen her und hüpfen auf der Stelle, bis der Absprung ins Jahr 1974 geschafft ist. Marokko ist das Ziel, fest verankert in den Erinnerungen einer Mitreisenden und jetzt von allen angesteuert.
Auf anderen Stationen in diesem „geheimen Forschungslabor“ werden wir in Bewerbungsgespräche verwickelt, zum Hoffegen geschickt, untersucht, analysiert und mit erstaunlichen Befunden konfrontiert: „Bettina, du hast eine Mehlwurmallergie“, igitt. Die Gerätschaften, die überall herumliegen, zum Bürstenziehen, Körbeflechten, Stühlereparieren, verwandeln sich dabei wie von selbst in die notwendigen Requisiten.

Das Konzept von „Missing Link“ stammt von Jörg Lukas Matthaei, der unter dem Label matthaei & konsorten gerne soziale Biotope aufgreift. Sein dokumentarischer Zugriff bekommt den Thikwa-Darstellern gut: Ihre Rollen in „Missing Link“ sind gesättigt von der eigenen Erfahrung, das Objekt der Untersuchung und der sanften, pädagogischen Regieanweisung zu sein. Wie sie das nun weitergeben, ist von großem Charme.
„Missing Link“ aber besteht nicht nur aus improvisiertem Spiel, sondern auch aus vorbereiteten Texten. Zettel, Spielkarten, Heftchen werden großzügig verteilt, die die Geschichte von der geheim gehaltenen Forschungsstation fortspinnen und die Einbildungskraft
verschwörungstechnisch befeuern. Da liest man zum Beispiel, dass im Januar 2005 zum Verhältnis von Schauspielern und Hunden geforscht wurde und im November 2008 eine Methode zur Biografieüberwindung entwickelt wurde. Ernster und näher dran am Thikwa-Ensemble aber sind zwei Hörstationen mit kurzen Passagen über das Verliebtsein und das Sterben. Da kommen die Stimmen einem umso näher, je verrückter ihr Text erscheint: Er warte auf die große Schamanin, die ihn hinüberbringe in das Land, wo „sie“ ist, die große Blitze schleudern konnte, erzählt eine männliche Stimme.

Katrin Bettina Müller

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Berliner Zeitung, 22.7. 2009

DIE SEELE DER BÜRSTE

Zunächst ist alles an diesem Abend ein großes Geheimnis. Wo spielt hier eigentlich wer und was? Und was soll der Titel bedeuten: „Missing Link coop.berlin“? Theater Thikwa, das Berliner Ensemble mit behinderten Schauspielern und der Konzepttheaterkünstler Jörg Lukas Matthaei haben sich zusammen getan und ein Forschungstheater ganz eigener Art kreiert. Vieles daran bleibt auch am Ende noch geheimniskrämerisch, aber das schadet nicht. Im Gegenteil: Es ist gerade die Stärke dieses sehr lebendigen Wunderkammerspiels, das sich der Menschenforschung und Herzensbildung verschrieben hat. Einer Menschenforschung, die in kein Biologiebuch und kein Bühnenskript passt, sondern außerhalb aller Laborbegriffe und Theatermauern stattfindet.
Nicht das Thikwa-Stammhaus ist denn auch der Spielort für „Missing Link“, sondern ein geheimer Treffpunkt in den Innereien des Kreuzberger Hinterhofkiezes. Jeder Besucher, der sich mit auf diese verschlungene Expedition begibt, muss seinen persönlichen Treffpunkt erst telefonisch erfragen. Ein Guide sammelt die Schar ein und führt sie zum Spielort. Und eigentlich möchte man gar nicht mehr verraten, denn durch das feinsinnige Versteckspiel zwischen Stadt und Bühne, Materie und Geist, zwischen Beobachten und Beobachtet-werden, Spiel und Ernst sollte sich jeder selbst vortasten. Doch ohne hier zu erwähnen, dass man schließlich ankommt an der alten Städtischen Blinden-Anstalt in der Oranienstraße, wird man von der gewitzten spielerischen Gratwanderung, die dann beginnt, wenig begreifen. Tagsüber werden in den herrlichen Manufakturen des Gebäudes Stühle geflochten, Bürsten gezogen, Wäsche- und Malerarbeiten verrichtet. Abends nun verwandeln sich die Werkstätten in Seelenlabors, durch die die wendigen Thikwa-Forscher tänzeln und von sich erzählen. Darwinsche Begriffe, die sich „Missing Link“ dafür ausleiht, dienen allenfalls als Sprungbretter in das subtile Zwischenreich jener Forschungsarbeit, die sich selbst überprüft mit fremden Mitteln. Und so richten sich die untersuchenden Augen der Spieler zuallererst auf ihre neugierigen Besucher. Kleines Tippen gegen die Schultern genügt und man wechselt die Positionen im Raum, wird selbst Spieler, übernimmt wieder die eigene Blickführung und befragt plötzlich jedes Werkzeug auf eine unbekannte Zeichenhaftigkeit. Und eben diese Bedeutungsverschiebungen im Kopf, dieses Verwischen von Nutz- oder Sinngehalt eines jeden Dings und Raums führt während der fast dreistündigen Forschungswanderung durch das verschachtelte Haus immer tiefer in die Seelenfalten der Menschen selbst.
Am schönsten, wenn tief im Keller zwischen alten Reisigballen der unvergleichliche Peter Pankow als Doyen aller Forscher mit seiner souveränen Leibesfülle und seltenen Feinfühligkeit einzelne Besucher nach ihrer eigenen Forscher-Tauglichkeit fragt: Wie man seine Fitness beweisen könne, will er wissen, und gleich hier, in dem engen Unterschlupf, bleibt einem die Antwort in den Gehirnwindungen stecken. Die Unsicherheit aber verwandelt der Menschenkenner Pankow sofort in eine höchst treffsichere kleine Lehrrede über Mut, Aura und die Kraft der Sonne. Dass in jeder Bürste, mit der einem hier sanft über die Schulter gestrichen wird, Seelenarbeit steckt, ist Dreh- und Angelpunkt von „Missing Link“. Und so sehr es auch in den persönlichen Erzählungen der Thikwa-Spieler von ihrem Glück und Unglück einfach menschelt, so sehr werden gerade diese Geschichten zu Brenngläsern der Welt.

Doris Meierhenrich