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WINTERREISEN II

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that shit was fake / this shit is real

choreographisches Projekt ausgehend von Hans Hotters Einspielung der WINTERREISE 1943 in Berlin, zeitgleich zu Stalingrad.

2. Veröffentlichung: choreographische Inszenierung in installativem Setting

Hebbel am Ufer Berlin 2004

April 2004:

1827 Schubert komponiert die „Winterreise“. Ungewollter Abschluß seines kurzen Lebens mit über 600 Lied-Titeln. Syphilis & Brotjob. Letzter geballter Ausdrucksversuch des romantischen Ich, das in Schnee & Eis die Einsamkeit & den Tod sucht. Aus verlorner Liebe angeblich. Während andere Phantome schon die realen Menschen umstreifen. 1942/43 Hans Hotter, berühmter Heldenbariton, steht in der Reichshauptstadt Berlin vorm Mikro. Er singt die „Winterreise“. Für Heimat & Front. In Stalingrad graben sich 300.000 deutsche Soldaten ins Ufer der Wolga ein. Um zu morden & zu krepieren. Jeder seine eigene black box von Bildern & Taten. Die sich nicht mehr öffnen wird. Am 31. Januar kapituliert der Generalfeldmarschall. Im Keller des „Roten Kaufhauses“. An Schuberts Geburtstag. Die ins Unendliche reichende Sehnsucht des romantischen Subjekts hat auf unheimliche Weise ihre kollektive Erfüllung gefunden. In den weißen Weiten der Fremde. Die romantische Chimäre des idyllischen Dorfs ist in der modernen Großstadt angelangt & hat diese von innen zerfetzt. Wenn aus den Kesselschlachten Nationen entstehen werden, so haben deren Städte keine Gesichter mehr. Wie heute noch in unserer flachen Objektwelt, die Körper & Sprache in allen Poren durchdringt, den geselligen Traum vom Ich träumen? Nachdem WINTERREISEN I: schubert-berlin-stalingrad im März für 24 Stunden flächige Gefühls- & Materialforschung im Matratzen-Discount zwischen Anhalter Bahnhof & Potsdamer Platz betrieben hat, kommt mit WINTERREISEN II that shit was fake / this shit is real die Arbeit von Ingo Reulecke + matthaei&konsorten nun im Theater an. Der alten Maschinerie gesellschaftlicher Verhandlung. 2004 „… & dann sind wir losgezogen & haben so getan, als ob wir noch mal anfangen könnten. Von vorn. Haben das Eigene wie fremd vor uns hingestellt. Um uns wieder danach sehnen zu können. & nachts haben wir immer wieder diese Musik gehört. Bis wir so dünnhäutig waren, daß TV & Comics & Gesichter in den Bars sinnliche Angriffe wurden, derer wir uns kaum noch erwehren konnten. & wir haben uns vertraut, zu sehr vielleicht. & das Draußen versank zunehmend in weißem Zwischenrauschen unserer eigenen Wirklichkeit. … Will dich im Traum nicht stören, wär schad um deine Ruh, / sollst meinen Tritt nicht hören, sacht, sacht, die Türe zu. / Schreib im Vorübergehen ans Tor dir: gute Nacht, / damit du mögest sehen, an dich hab ich gedacht… & vielleicht war all das schon immer gelogen.

Historisches Material des Sounddesigns (außer Hotters Einspielung für die Deutsche Grammophon) in Reihenfolge der Verwendung: Helmut Schmidt, Radioansprache während des „Heißen Herbstes“ / live Radioübertragung der Verhaftung von Baader u.a. 1972 / Allen Ginsberg liest „Howl“ 1959 / Hermann Görings „Nibelungen-Rede“ in Berlin, die das Ende der 6. Armee zum 10. Jahrestag der „Machtergreifung“, 30.1. 43, kurz vor deren tatsächlicher Kapitulation glorifiziert. Die von den Tänzern im zweiten gesprochenen Texte sind Originalaussagen russischer & deutscher Soldaten 50 Jahre später. Sabine Blickenstorfer, Kostüm // Jörg Lukas Matthaei, Inszenierung/Raum/Konzeption // Friederike Donath, Kostümmitarbeit // Judith Pfeffing, Videomixing // Lin Fichte, Regiemitarbeit // Friederike Plafki, Tanz // Kathi Fourest, Choreographiemitarbeit // Thomas Plöntzke, Videoprogrammierung // Marie Goeminne, Tanz // Ingo Reulecke, Choreographie/Tanz // Solveig Hansen, Soundmitarbeit // Mata Sakka, Tanz // Annett Hardegen, Produktion/Dramaturgie // Jan-Peter E.R. Sonntag / N-solab, Video // Andreas Harder, Licht // Franz Tröger, Korrepetition // Bodo Herrmann, Bühnenbau // Tony Vezich, Tanz // Clint Lutes,Tanz // Josh Martin, Sounddesign Gefördert durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung & Kultur, Berlin, & den Fonds Darstellende Künste e.V. aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur & Medien