Banalität des Unerhörten
Im Rahmen eines gesellschaftlichen Großtrends ist es schon lange schick, die Triebkräfte von Tätern spannender zu finden als die Leiden der Opfer von Verbrechen.Und zwar desto mehr, je tabubelasteter die Tat. Die Gestalt des Serienmörders konnte es so zu Kultstatus bringen. Triebtäter und Kinderschänder dürfen zwar weniger auf Empathie rechnen, haben aber dennoch den Rang einer höchst ambivalenten „öffentlichen Figur“, in der sich das Düstere der Gesellschaft bündelt und eine kathartische Reinigung erfahren kann. Das jedenfalls ist Ausgangsthese für die szenische Tanzproduktion „Lockerungsstufe 4: Frank Schmökel“, die jetzt in der Staatsbank zu sehen ist. Der dramatische Ausbruch des mehrfach vorbestraften Sexualstraftäters Frank Schmökel aus dem sogenannten Maßregelvollzug (der „Lockerungsstufe 4“) bis zur erneuten Ergreifung in Sachsen hielt im Herbst des vergangenen Jahres die Republik tagelang in Atem. Die genußvolle Verteufelung der „Bestie“ und die Klage über das Versagen der Behörden wurden zum wohligen Feierabend-Vergnügen.
Das Produktionsteam um Regisseur Jörg Lukas Matthaei nähert sich dem Komplex aus Schuld und Lust behutsam an. Im Dämmerlicht des großen Kuppelsaals tritt der Tänzer Ingo Reulecke kaum sichtbar auf, während Klara Höfels, auf einem Podest links des nüchternen Spielfelds, Grimms Märchen von der Müllerstochter in der Mörderhöhle erzählt, die ihren Fast-Vergewaltiger bei einer inszenierten Hochzeitsfeier der Öffentlichkeit ausliefert. Darauf projiziert Nicole Schuck scheinbar amateurhafte Videoaufnahmen von gräßlichen Interieurs und Datschenhorror auf die rückwärtige Leinwand. So ist das fatale Geflecht von dauernder Bedrohung durch die Banalität des Alltags und die Strukturen der Triebtabuisierung fast beiläufig vorgegeben. Schließlich setzt Ingo Reuleckes erkaltete, nüchterne und solipsistische Bewegungssprache ein und kommentiert mit körperlichen Deformierungen das verkümmerte und groteske Seelenleben des ubiquitären Täters: Reulecke läßt seinen Körper einschnappen wie ein Klappmesser, verspreizt Hüften und Beine, läßt die aufeinandergelegten Daumen autistisch kreiseln und stemmt die horizontalen Linien der Schulterpartie gegen das Vertikale der Wirbelsäule. Ein Bild des Jammers und doch auch von bedrohlicher Verhaltenheit.
Mit Textpassagen aus Euripides’ „Bakchen“ wird eine andere Tatperspektive herbeizitiert – mordende Frauen -, ehe der Rechtfertigungslehrer erotischen Tabubruchs schlechthin, Vladimir Nabokov, zu Wort kommt. Die Bildebene erreicht hier ein schockierend schillerndes Niveau, denn zu Nabokovs Phantasma des aufreizenden „Nymphchens“ wird Reulecke zunehmend ins Licht gerückt und dem Blick ausgesetzt. Kaum noch ist auszumachen, ob er die Lust, die Bloßstellung, die Begutachtung oder die Peinlichkeit darstellt, die Täter- oder Opferdynamik oder gar beides zusammen. Noch die fast pornographischen Textpassagen gleiten über den wehrlosen Bewegungskörper in eigenartig haltloser Suggestion hinweg. Wenig später vermag auch die Großaufnahme einer Katze, die sich selbst Hygiene bereitet, den Bewegungsdiskurs zwar geschmacksverletzend zu kommentieren, nicht aber zu denunzieren.
Es gelingt Regisseur, Sprecherin und Tänzer fast beiläufig, niemals leichtfertige Täterentlastung zu betreiben, auch wenn die umstrittenen Aufzeichnungen Schmökels vorgetragen werden und eine gewisse Faszination für den medienkritischen Subtext, die Banalität des Unerhörten und die Eitelkeit des Verbrechers mitschwingt. Ehe das Anekdotische wieder die Oberhand gewinnt: Zuletzt sitzen Angst und Schrecken im Innern eines Schuppens und spähen beklommen hinaus. Doch da verlöscht bereits das Licht. Die Jagd ist aus.
Franz Anton Cramer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Mai 2001