show content

RADIO: CRASHTEST 1

hide content

WDR 3 Mosaik – mit Stefan Keim, 18.6.12

 

Mod: Würde man Dortmund – jetzt kommen wir mal zu unserem so ans Eingemachte, zu unserem ersten Thema – würde man Dortmund schwarz-weiß sehen, dann sähe es wohl so aus: oben arm und unten wohlhabend, oben Döner, Wurst und raues Multikulti, unten Pasta, Steaks und wohliges Bürgertum. Weiß der eine überhaupt vom anderen? Er weiß mehr, wenn er ins Dortmunder Theater geht. Die städtischen Bühnen nämlich bieten Neugierigen dort Aufklärung mit Hilfe des CRASHTESTS NORDSTADT, so heißt ein neues Stück, das Stefan Keim gesehen hat, beziehungsweise er hat sich dem Crashtest unterzogen gestern Abend und wie ich sehe keine größeren Blessuren davongetragen.

 

Keim: Nein, aber ich bin schon ein Bisschen heute sehr klein mit Hut, weil meine Gruppe – man teilt sich dort in Gruppen auf oder in Portfolios, man ist auch kein Mensch mehr, sondern eine Aktie, die durch die Teilnahme an verschiedenen Aufgaben ihren Wert steigern soll und durch die Stadt geschickt wird – und mein Portfolio ist gestern vorletztes geworden, ich habe meinen Wert nicht besonders steigern können.

 

Mod: Ok, halten wir jetzt mal fest: um dieses Stück zu sehen, gehen wir nicht in ein Haus rein, also nicht ins Stadttheater rein.

 

Keim: Nein, Treffpunkt ist auf dem Nordmarkt, das ist so eine legendäre Stelle, wo in den Medien auch immer wieder drüber berichtete wird, dass es dort Probleme mit offenem Drogenhandel, mit Prostitution und so weiter gibt, das ist ja überhaupt das Image der Nordstadt; hoher Migrantenanteil und etwas, wo man dann auch abends so als guter Bürger nicht mehr hingeht. Und das ist auch ein Ziel dieses Theaterprojektes, dass man dort als Theaterzuschauer durch diesen Ortsteil gejagt wird. Es gibt vier verschiedene Parcours, also die Gruppen, die Portfolios, machen auch ganz unterschiedliche Dinge, wir sind über Handy mit unserem Checker, der in einem zentralem Ort, in einer Börse in einer ehemaligen Kirche sitzt und uns dann durch die Gegend jagt, verbunden, und wir sollen dann diese Stadt, diesen Stadtteil kennen lernen, indem wir unterschiedliche Aufgaben machen. Das kann einmal etwas Sportliches sein, das zwei von unseren Gruppen gegeneinander spielen, dass man von einem Ort zu dem anderen möglichst ohne entdeckt zu werden kommen muss, während Leute oben auf einem Hochhaus versuchen, zu beobachten wo wir uns gerade aufhalten; das sind aber auch ganz andere Aufgaben, zum Beispiel kommen wir in einen Hinterhof hinein und da ist eine kurdische Moschee und ich hab gedacht, ah, jetzt kommt die Multikulti-Angelegenheit, wir gehen in die Moschee, kommen in den ersten Raum, da ist eine Frau mit dem Namen Fatma, was dann auch noch dem Klischee entspricht, und die staffiert uns mit Perücken, mit so seltsamen Umhängen aus, dann bekommen wir ein kurzes Musiktraining und plötzlich sind wir in einer christlichen Kirche, stellen uns in den Altarraum unter Mikrophone und sind der Gospelchor.

O-Ton: „Willkommen in der Eagle Church als Gospelchor. Musik. (singt) Hallelu-u-jah. Ich singe vor. Halle-luu-uu-jah. Hallelu-u-jah. Our God is here.

Und dann sind wir dran, Hallelu – das mach ich jetzt morgens früh nicht, nein. Also wir haben uns große Mühe gegeben, und danach werden wir von den Leuten dann per Handy mit unserer Checkerin bewertet. Und dann gibt es Punkte für uns als Aktie aber auch für uns als Portfolio, und das wird dann am Schluss ausgewertet.

 

Mod: Wer sind denn diese Leute, sind das Ensemblemitglieder? Nein.

 

Keim: Nein, das ist das Besondere. Es gibt ja solche Stadtgänge, wir haben hier in Köln zum Beispiel so etwas gehabt, die Goldfädel-Saga, wo wir hier auch so einen Ortsteil kennen gelernt haben, aber mit Profi-Schauspielern. Das sind alles Leute aus der Nordstadt, die angeleitet worden sind von den Theatermachern unter der Leitung vom Regisseur Jörg Lukas Matthaei, der auf solche Sachen spezialisiert ist, und die haben natürlich mal mehr mal weniger so eine Situationsmächtigkeit, aber insgesamt ist das schon so eine Angelegenheit, die begeistert auch auf der Straße, man lernt so richtig ein lebendiges Stadtviertel kennen, also auch Leute, die man sonst nicht unbedingt ansprechen würde, also Leute, die dann so ein Bisschen rockermäßig da rumlaufen, mit coolen Sonnenbrillen, wenn man da steht mit einem Stadtplan, man muss zum nächsten Ort, kommen die au einen zu: „Ey, wo willst du denn hin?“ und es ist sofort ein Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit da. Man muss ja ein Spiel spielen, man will ja auch gerne gut sein und will es gewinnen, und durch dieses Ziel angetrieben kommt man da durch diesen Ortsteil und lernt wahnsinnig viel kennen.

 

Mod: Und das hat keinen faden Beigeschmack? Also ich erinnere mich ich hab mal gelesen in Chicago gibt es Ghetto-Führungen mit Polizeischutz, damit man mal sieht wie die anderen so schlecht leben.

 

Keim: Nein, das ist überhaupt nicht der Fall, man lernt eher einen kreativen, einen brodelnden Stadtteil kennen, und man taucht auch teilweise übers Spiel in die Lebenswirklichkeit von Leuten ein. Aber auf Augenhöhe, es passiert alles auf Augenhöhe, die erzählen einem ja nichts, was sie nicht wollen. Zum Teil sind es fiktive, abgedrehte Sachen, aber zum Beispiel auch eine sehr schöne Sache: wir müssen durch ein Hotel hindurch, dann durch den Notausgang, kommen dann dahin, wo die Tapete von den Wänden abblättert, in ein Zimmer, und da ist dann eine junge Frau. Die erzählt uns sie ist alleinerziehend und hat zwei Kinder, will jetzt nach Düsseldorf zum Studieren. Sie erzählt uns aus ihrem Leben und wir kriegen bestimmte Begriffe in die Hand. Da geht’s einmal um einen Bafög-Antrag, oder aber eben auch eben über solche Sachen wie die Geschichten meines Großvaters, und wir müssen in der Gruppe entscheiden, was ist für diese junge Frau jetzt am wichtigsten. Und da debattiert man natürlich, Moment, was ist denn für ihr Leben grad wichtig und was ist vielleicht dafür wichtig, was sie von ihrem Gefühl her mitnehmen muss. Natürlich war’s der Bafög-Antrag, weil sie sagte ohne den Bafög-Antrag krieg ich nichts geregelt in meinem Leben, da können die Geschichten meines Großvaters noch so schön und wichtig für mich sein. Und da lernt man eben wirklich etwas über das Leben dieser Menschen kennen, also überhaupt keinen faden Beigeschmack, sondern das ist Eintauchen ins Leben.

 

Mod: Kann man das noch beurteilen? Weil Sie urteilen ja grade, aber mit dem klassischen Repertoire des Theaterkritikers? Ist das Theater?

 

Keim: Es ist eine neue Form von Theater. Ich maße mir jetzt an, es beurteilen zu können, weil ich schon bei ungefähr zwanzig dieser Projekte mitgemacht habe, es gibt ja sehr viele, die Performancegruppe Signa macht ja auch so etwas. Allerdings bauen die eine Fantasy-Welt auf, man entdeckt sich quasi selbst dabei. Das ist hier auch so, man macht mit wildfremden Menschen eine Gruppe, ist sofort per Du, fängt an diese Aufgaben zu lösen, aber hier kommt eben dieser sehr starke und politische und gesellschaftliche Aspekt, den Sie gar nicht merken, denn Sie spielen ja. Und erst im Nachhinein überlegen Sie, was hab ich jetzt eigentlich erlebt, und an welchen Orten war ich jetzt, die ich sonst niemals kennen gelernt hätte, weil ich doch nie in so einen Hinterhof gehen würde und dann in irgend so eine Kirche geraten würde als ein Beispiel. Und ich finde, das ist schon wirklich – und da würd’ ich auch sagen als Theaterkritiker – das ist schon außerordentlich gut gelungen. Natürlich immer mal hier, mal da, und es gibt Momente wo es nicht funktioniert und wo es mal hakt, das gehört aber zur Natur dieser Sache. Ich glaube schon, dass wir da sehr, sehr viel mitkriegen und dass sich das Bewusstsein erweitert. Ich seh die Nordstadt jetzt anders.

 

Mod: Der reiche Süden besucht den armen Norden, Teil zwei geht andersrum?

 

Keim: Na, nicht nur. Also in der Gruppe waren auch sehr viele, die sich gut auskannten, also auch Leute aus der Nordstadt, die einen Riesenspaß hatten selber überhaupt mal reinzugucken, was ist hinter der nächsten Tür, was sind hier für Orte, die ich selber nicht kenne. Das ist ja alles nicht so, dass man sagen kann nur der reiche Süden geht ins Theater, das ist ja in Dortmund angenehmerweise nicht so.

 

Mod: Herzlichen Dank. Stefan Keim war das, er hat berichtet über das Theaterexperiment CRAHSTEST NORDSTADT.mach dein spiel.