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PRESSE : SCHWELLENLAND

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Theater der Zeit, September 2010

MIT HERZLICHEN GRÜSSEN, IHR SCHWELLENLAND

(…) Akteur in mehrerlei Hinsicht war das Publikum in Jörg Lukas Matthaeis „Schwellenland“. Diese Arbeit ist ein trans-mediales Gaming-Projekt, das sich zehn Tage lang auf das gesamte Stadtgebiet und zugleich via Internet ausbreitete und an dessen Ende, sofern man als Staatenloser bzw. Flüchtling „überlebte“, eine Einbürgerung stand. Das Thema ist also brisant, zumal in einem Land wie Österreich, das seine Asylgesetze soeben wieder verschärft hat und in dem im Jahr 2010 die Zahl der Einbürgerungen um mehr als ein Drittel zurückgeschraubt wurde. Matthaei, der aus Köln stammende und in Berlin lebende Theatermacher, der seit zehn Jahren unter dem Label matthaei & konsorten ähnliche performative wie diskursive Inszenierungen herausbringt, hat mit „Schwellenland“ ein Spiel in Gang gesetzt, bei dem „Läufer“, „Mittler“ und „Wächter“ im zähen Kampf um eine mögliche Einbürgerung gegeneinander antreten: Die Position eines „Läufers“ entsprach dabei dem eines Flüchtlings ohne Pass, Krankenversicherung, Geld oder Arbeit; „Mittler“ waren deren im Idealfall hilfsbereite Kontaktpersonen; und „Wächter“ hatten die Aufgabe, sogenannte „Zielpersonen“, also staatenlose Menschen, ausfindig zu machen. Die im Spielverlauf gestellten Aufgaben (insgesamt 9 Levels) und die damit verbundenen Anweisungen und Informationen (Zeit- und Treffpunkte, Tipps) wurden via Mail und im Internet jeweils am Vorabend an die Spielteilnehmer ausgegeben. Matthaei geht es dabei nicht um das Nachspielen von Flüchtlingsschicksalen, sondern um „Modelle von Fremdheit“, wie er sagt. „Schwellenland“ versteht sich nicht als dokumentarische Arbeit. „Ich bin nicht der Marketender von Migrationsgruselgeschichten, sondern mich interessiert der Umstand, dass ich die echte Geschichte genau nicht kriege.“

Auch per Handy oder im Radio wurde das Spiel kommuniziert, so dass letztlich auf drei Ebenen gespielt wurde: auf der Ebene eines performatives Livegeschehens, aus der Ferne per Handy oder Internet sowie als Beobachter. Zu Beginn des Spiels, nachdem jeder Teilnehmer von der Schwellenland-Zentrale eine neue ID bekommen hatte und den Läufern Pässe, EC-Karten und damit wichtige Bestandteile ihrer Identität abgenommen worden waren, begrüßte Referee Vusa Mkhaya die Teilnehmer im In te met auf Level 1 „Hallo Spieler! Jetzt seid ihr im Schwellenland angekommen. Ab heute werdet ihr lernen, wie man sich richtig bewegt. Kontrollen sind unvermeidlich, nehmt sie sportlich. Viel Spaß und bleibt cool!“ Menschen, die real als Flüchtlinge in Wien leben, fungierten in diesem Spiel als Experten und Betreuer, die den Teams (Läufer, Mittler und Wächter) ihr Know-how zur Verfügung stellten, aber auch die Aufgabe hatten, das Spiel zu kontrollieren, und dabei die Macht besaßen, Spieler, die zu viele Fehler machten, auszuweisen. Klar gezogene Grenzen verwischen sich also, und scheinbar gültige Zuordnungen, etwa dass ein Coach niemanden verpfeift, werden brüchig. In dieser oberflächlich gut geregelten Welt ist nichts wirklich sicher. Die Kreation und die Originalität des Einzelnen sind gefragt – vor allem, um Punkte fürs Überlebenskonto zu sammeln. Auf Level 4 mussten Läufer an gute Schwarzmarktjobs (z. B. Gemüseverkäufer am Naschmarkt) herankommen. Wächter sammelten Punkte, indem sie etwa auf Level 7 Scheinehen aufdeckten.

Es ist ein grausames Spiel, aber eben nur ein Spiel. Matthaei erschließt damit neue Erfahrungsräume, er legt Strategien eines notgedrungen unöffentlichen Lebens offen, macht ein Stück globalen Lebensalltags erfahrbar, ohne Sozialkitsch zu verströmen. „Schwellenland“ ist eine sportliche, unberechenbare Phantasie, ein hoch ausdifferenziertes Spiel von Versuchsanordnungen. Wer dabei war, hat sehr viel kennengelernt, von sich, von anderen und davon, was es heißt, unter extremen Rahmenbedingungen zu existieren. Dabei ermöglicht die Form des „Spiels“ als zunehmend akzeptierte Kunstsparte eine besonders aktive Form der Auseinandersetzung, ohne in die Didaktikfalle eines Sozialdramas zu geraten.

Margarete Affenzeller