show content

Pathos sprechen (schauspiel)

hide content

Weiterentwicklung von PATHOS SPRECHEN (tanz) für ein installatives Setting bezogen auf die Architektur des Guckkasten-Theaters. Live-Interaktion von Leserin, Schauspielerin, Sound-Designer & Regie zur Erprobung Pathos-stärkender Mittel.

HAU Berlin 2005

PATHOS SPRECHEN (schauspiel) behält den Text der blinden Leserin Roswitha Röding bei, entwickelt jedoch zusammen mit der Schauspielerin Judith van der Werff & dem Sounddesigner Josh Martin eine Version für traditionelles Guckkasten-Theater: Das Berliner Hebbel-Theater von 1906. Die Rahmung des Bühnengeschehens, die in diesem Theaterbau noch besonders hervorgehoben ist durch ein Portal, das seinerseits wie ein überdimensionierter Bilderrahmen wirkt, wird von PATHOS SPRECHEN (schauspiel) radikalisiert & näher an die Zuschauer “herangezoomt”: Vom Haus-Personal wird das Publikum nur in die beiden Doppellogen im ersten Rang eingelassen, wo sie im Halbdunkel anstelle der üblichen Fenster zur Bühne hin Riegips-Wände erkennen, in denen schwarze Gummi-Ringe stecken. An diese herantretend sieht man je unterschiedliche Ausschnitte der Bühne. In diesen sind entweder die Leserin oder eine Schauspielerin oder Ausschnitte aus einer Videoprojektion zu sehen, sowie die leeren Zuschauerreihen. Gleichzeitig sind aus den Lautsprechern in den Logen in intimer Lautstärke Stimmen zu hören; ergänzt von anderen Sprechern oder Musikeinspielungen, die aus dem Zuschauerraum zu kommen scheinen. Es sind dies die Stimme der Leserin mit ihrer Textlandschaft von pathetischer Theorie, durchflochten mit der-jenigen der Schau-spielerin & einer dritten, deren Sprecher jedoch nie sichtbar wird. Die Schauspielerin & der männliche Sprecher scheinen zu proben – es werden verschiedene Texte angelesen, vorgetragen, es wird an ihnen gearbeitet, sie werden verworfen, neue ausprobiert. Allen gemeinsam sind Verbindungen zu theatralem Pathos & zu den Aspekten des Fließtextes. Die Atmosphäre oben in den Logen, in denen die “Vierte Wand” in ein Setting von Peep-Shows übersetzt wird, ist eine von theatralem Voyeurismus, in dem pathosproduzierende Mittel wie durch ein umgedrehtes Fernglas betrachtet werden können, in einer mehrfach gerahmten “Probensituation” statt großem Bombast. Das Textmaterial umfaßt u.a. Rolf Dieter Brinkmann, Odysseas Elytis, Ossip Mandelstam, Friederike Mayröcker, Heiner Müller,   Rainer Maria Rilke, Shakespeare Vom Pathos sprechen, noch einmal. Große Gefühle, in denen das Subjekt sich wiederfindet, indem es sich verliert. Konstruktion, die ihren Bauplan offenbart & genau dadurch zu beeinflußen sucht. Pathos, das andere der Vernunft, der bloß rationalen Darlegung scheinbar. Oder deren Komplement, ohne dessen emotionale Dynamisierung keine bindende Überzeugung erreicht wird. Für PATHOS SPRECHEN begegnen sich eine blinde Leserin & eine Tänzerin bzw. Schauspielerin mit den Besuchern in einem offenen Setting, das theoretisches mit praktischem Handeln verbindet: Wer spricht im Fall des Pathos – welches ICH wird aktualisiert, wenn Pathos spricht? Welche Sprachen besetzen die Körper, welche Erinnerungsspuren haben ihre Rillen in die Sinne gezogen? Und wo schließt sich die Spannung vom Eigensten zum Allgemeinsten kurz? Woher überhaupt diese Sehnsucht danach? An der Stelle eines “Vortrags-Formats”, das in eindimensionalem Sprechen eine Position des Wissens zu behaupten sucht, eröffnet PATHOS SPRECHEN als Verbindung von Lecture-Performance & Installation einen jeweils ortspezifischen Denkraum: Der “Fließtext”, den die blinde Leserin vorträgt, umkreist Theorien des Pathos mit literarischen & persönlichen Erinnerungen, entlang der Grundvektoren von Tanz/Theater – Raum, Zeit, Zeichen. In den ortsspezifischen Konkretionen gewinnt dieses Hintergrundprogramm der eigenen künstlerischen Arbeit jeweils anderes Profil. Und vielleicht ist PATHOS SPRECHEN auch eher schon Datenbank denn Archiv, zumindest ein Weg in diese Richtung. Ein Modell, das ebenso das produzierende wie das beobachtende Subjekt erfaßte und dessen Modi sich grundlegender unterschieden, als gegenwärtige Vorstellungen dies immer noch vorauszusetzen scheinen. Die heutigen Bedingungen der Produktion von Pathos, ebenso wie dessen Rezeption, wären demnach gänzlich andere, als diejenigen der Zeiten, an die wir denken, wenn von Pathos die Rede ist. (Die ebenso kurzgreifende, wie das Falsche bestätigende, selbstverleugnende Wiederholung von hohl Pathetischem ist es sicherlich nicht.) Und vielleicht tendiert Sprechen über Pathos in dem Sinne zu Vergangenem – schlicht weil das Gegenwärtige immer noch erfahren werden will, bevor darüber zu sprechen wäre.

Performance/Lecture von & mit J. L. Matthaei, Friederike Plafki/Judith van der Werff, Roswitha Röding; Josh Martin, Bodo Herrmann