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SENDER WEIMAR

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eine 12-stündige choreographische feldmessung vor ort

„pèlerinages“ Kunstfest Weimar

September 2010:

Im imaginären Grundstein des Hauses liegen Dokumente des 3. Reichs, die von der Entstehung dieses Gebäudes zwischen Provinzposse, Sippenhaft des ungreifbaren Philosophen und aufgeblasenen Selbstermächtigungsgesten des Nationalsozialismus sprechen.

In seinem Grundriß ist ein umgedrehtes Kloster enthalten, das übertünchender Huldigung und zugerichtetem Studium des Vereinnahmten dienen sollte, jedoch nie ganz fertig gestellt wurde.

In den Oberflächen der Räume, ihren Farben, Materialien, Details sind Ablagerungen lesbar von drei historischen Schichten, wie auch Spuren der Menschen, die hier teils jahrzehntelang arbeiteten und lebten, Tondokumente der Außenwelt erstellten, ausstrahlten, archivierten.

Nietzsche hat an diesem Ort nie eine Heimstätte gefunden, die längste Zeit hat es als Funkhaus des „Landessender Weimar“ und für Synchronstudios der DEFA gedient, bis dem „Staatlichen Komitee für Rundfunk der DDR“ der Staat abhanden kam und es nach rund 10 Jahren in der neuen Zeit geschlossen wurde. Am 1. September 2000, eine Woche und 100 Jahre nach Nietzsches Todestag. War das Haus noch nie öffentlich zugänglich, so ist es seitdem gänzlich in sich verschlossen gewesen.

Im September 2010 wurde es nun wieder geöffnet. Und zum ersten Mal vom Keller bis zum Dachboden als Bewegungsraum und Klangkörper frei zugänglich gemacht.

 

SENDER WEIMAR eine choreographische feldmessung vor ort untersucht, vermisst & öffnet das Gebäude der Nietzsche-Gedächtnishalle auf unterschiedlichen Ebenen, mit sich wechselseitig ergänzenden künstlerischen Verfahren. Die Inszenierung tanzt dabei weder den Nietzsche noch erzählt sie die Geschichte des Funkhauses nach. In einer 12-stündigen Performance mit acht Tänzern und vier Musikern werden in einer großen Wanderung gemeinsam mit den Besuchern nacheinander unterschiedliche Areale des Gebäudes erschlossen. Die Feldmessung nimmt sich dabei Zeit für die einzelnen Räume, steht in einem fortwährenden Wechselspiel mit deren akustischen, körperlichen, inhaltlichen Resonanzen: Welche Klangräume eröffnen sich durch die Musik wie durch die Bewegungen von Tänzern und Zuschauern. Welchen Einflüssen sind die Körper durch die Vorgaben des Architektur ausgesetzt, wie reagieren sie darauf, welche neuen Bilder entstehen und wie prägt das Gedächtnis der Räume, was heute dort gesprochen oder hörbar gemacht wird. Das Sichtbare des Tanzes und der Bespielung des Ortes steht dabei immer im Dialog mit dem Abwesenden seiner früheren Bestimmungen. Die hier nicht abgebildet, sondern durch die heutigen Vorgänge als Hohlformen spürbar gemacht werden. Die Tänzer/Performer mit einem weiten Spektrum unterschiedlicher Bewegungssprachen werden dabei mit ihren jeweiligen „Fingerabdrücken" sichtbar, gleiten durch Weisen der Präsenz von Unsichtbarkeit bis zu eindrücklicher Intensität. Teils in Komplizenschaft mit ihren Zuschauern, teils von diesen getrennt durchlaufen sie vielfältige Scores, Anordnungen für spezifische Settings, in denen sie in Echtzeit die Ereignisse im Raum komponieren. Ihre Aufgabe ist es dabei auch, für die unterschiedlichen Orte im Gebäude jeweils andere Energielevel zu finden, welche die Erfahrung des Raums im Körper und der Bewegung der Tänzer kondensieren. Musikalische Grundlage ist das String Quartet II von Morton Feldman von 1983. Seine im Original bereits sechsstündige Komposition findet sich hier über eine Dauer von 12 Stunden & unterschiedlichste Aufführungsszenarien im Gebäude verteilt. „Bis zu einer Stunde denkt man über ‚Form' nach, danach ist es ‚Maßstab'. ‚Form' ist einfach die Aufteilung von Dingen in Abschnitte. Aber ‚Maßstab' ist eine andere Sache. (...) Früher waren meine Stücke wie Objekte, nun sind sie wie Dinge, die sich entwickeln." Morton Feldman 1985 In spezifischer Reaktion auf die Architektur des Gebäudes - seine Klangräume, seine sozialen & ideologischen Vorgaben -, eröffnet die Musik immer wieder andere Bezüge zwischen Tänzern, Besuchern & Musikern. Ständige Variationen von Mustern & Stimmen erzeugen einen Fluß von Klängen, der sowohl die musikalische Produktion wie die Abbildung von Emotionen fortwährend unterläuft, austrickst, suspendiert. Wodurch ein je nach Hören changierendes Gewebe entsteht, das immer wieder zwischen persönlichen Assoziationen oder der Lust an der Wahrnehmung seiner Logiken oszillieren kann. Wodurch das Bewegungsmaterial der Tänzer gleichermaßen unabhängig von der Musik wie in Dialog mit ihr gesehen werden kann, so wie Feldman seine Kompositionen auch als Schatten von Klängen beschreibt. Das gesprochene Wort durchwandert im Verlauf der 12 Stunden ebenfalls unterschiedlichste Positionen - vom Klang des Atmens & vorsprachlicher Gefühlsäußerungen über Live-Synchronisationen historischer Dokumente aus der Entstehungszeit des Hauses bis hin zu den Stimmen von Zeitzeugen, die früher hier gelebt & gearbeitet haben, sich von ihrer Kindheit bis zum Ende des Senders an das nun Abwesende erinnern. Die Geschichte des Gebäudes als Funkhaus & Synchronstudio der DEFA wird überblendet mit seiner ursprünglichen Entstehung aus einer verqueren, verfälschten Ableitung Nietzsches. Je nach Historie, Funktion & heutigem Zustand der Räume entstehen ständig permutierende Ich-Entwürfe, Erinnerungs-Filme & Sprachspiele - Realitäten ebenso behauptend wie aufhebend, gleichzeitig von Wahrheit & Lüge erzählend. Im Verhältnis zur Gruppe wird das Individuelle sichtbar, dieses ebenso hervorhebend wie vereinnahmend. Entgegen der Steinschwere des Hauses zunächst jedoch immer auch leichtfüßig daherkommend. & schließlich veröffentlicht SENDER WEIMAR im Fortgang durch die Räume & Stunden die Spuren seiner Entstehung, erzeugt sein eigenes Archiv - das aber in Reaktion auf diesen Ort mit Verlassen des Hauses sich selbst wieder löschen wird. Inszenierung & Choreographie: muvingstudies / Jörg Lukas Matthaei & Ingo Reulecke Tanz/Performance von & mit: David Bloom, Joris Camelin, Raffaella Galdi, Katharina Meves, Ivan Mijacevic, Ingo Reulecke, Johanne Timm, Bettina Thiel Streichquartett: Michael Rauter (Cello), Gregoire Simon (Viola), Daniela Strasvogel (Violine), Biliana Voutchkova (Violine) Szenografie: Katrin Büttner (Raumgestaltung), Lisa Fütterer (Kostüm), Bogna Jaroslawski (Audio/Recherchen), Si Liu (Raumgestaltung/Animation), Silvie Naunheim (Kostüm), Laura Weber (Foto/Video). In Kooperation mit dem Master-Studiengang „Bühnenbild_Szenischer Raum" an der TU Berlin. Fotos: Maik Schuck / Laura Weber / JL Matthaei