show content

Interview : pathosforschung im studio p

hide content

Gespräch im Auftrag von „Ästhetik & Kommunikation“, 2004


studio p: ein ort für pathosforschung


Ein Gespräch zwischen der Initiatoren Susanne Vincenz, Filmwissenschaftlerin, Dramaturgin und künstlerische Leiterin der staatsbankberlin, und Jörg Lukas Matthaei, Performing Arts, Diskursproduktionen und Pathosforschungen. Mit Einspielungen von Gästen.

JLM Also: Ich bin zu euch gekommen, 1999, glaube ich, zur staatsbankberlin, und habe Dir vorgeschlagen, zum Thema „Pathos“ unter dem Titel: „studio p: ein ort für pathosforschung“ eine „Diskursproduktion“ einzurichten, wie ich das nenne. Eine andere Art von öffentlichem Denken und Sprechen.
SV: Eine Schnittstelle herzustellen zwischen Privatem, Öffentlichem und Medialem, das war eine Ausgangsidee von studio p: Gespräche anzuzetteln, die zwischen Akademie, Theater und Wohnzimmer stattfinden. Ein Studio ist ja zunächst mal ein Arbeitsraum, ein Ort, der dem Studium gewidmet ist. Zugleich bedeutet „studio“ im Englischen auch „Atelier“, im Französischen eine kleines privates Appartement und konnotiert darüber hinaus das „Aufnahmestudio“.
JLM: Ein Interesse dieser Diskursproduktion war es, vorzugsweise zwei Leute zusammen zu bringen, die nicht schon im selben Bereich schwimmen. So daß bereits die Frage: Was meinen wir, wenn wir scheinbar übers Gleiche sprechen, Bestandteil produktiver Öffnung gewohnter Vorverständnisse werden konnte. Wo sich dann auch das Publikum, das meistens keinem der beiden Bereiche angehörte, ohne allzu große Scheu einmischen konnte. Also haben wir zu den Sessions je zwei Pathos-Spezialisten eingeladen – die das manchmal vorher noch nicht von sich wußten, daß ihre Arbeit mit Pathos zu tun habe.
SV: Und „Pathos“ erschien uns genau das richtige Thema zu sein, ein Begriff, der meistens negativ gebraucht wird, wenn er in einer Theaterkritik steht, im Sinne des überzogenen theatralischen Ausdrucks, der den Zuschauer peinlich berührt, und der im Bereich der politischen Rede den Sachverhalt zugunsten der Rhetorik zu verschleiern scheint. Pathosverdacht meint ja den manipulativen Gebrauch von Gefühlen der ZuhörerIn oder den übersteigerten Ausdruck, der in sein Gegenteil, nämlich ins Groteske kippt.
Kurzum: Ein Thema, das durch seinen abwertenden Beiklang bestimmt ist, und trotzdem offensichtlich mit Theater, mit Kunstproduktion überhaupt, mit Politik, und gerade den medialen Inszenierungen, mit Emotionen zu tun hat.
Die staatsbank erschien uns für die Herstellung eines solchen Raumes deshalb besonders geeignet, weil sie in gewisser Weise ein heterogenes Publikum hatte, das sich nicht über eine vorgegebene Ästhetik definieren ließ. Außerdem war sie selbst ein seltsam pathetischer Ort, in der Art wie sie sich am Berliner Gendarmenmarkt gegen die restaurierte Neue Mitte stemmte, wie der Osten geisterhaft überdauert und die ganze Nazivergangenheit der Dresdner Bank noch in ihren Wänden steckte.
JLM: Und unser Arbeiten hat dann angefangen mit der Frage nach dem Weihnachtsstern…
SV: Wir konnten uns nicht über das Bild einigen, das auf der Postkarte für studio p: ein ort für pathosforschung zu sehen sein sollte. Ich wollte ein seltsam staubiges Bild, das dem Abwegigen des Themas angemessen ist.
JLM: Du wolltest ein bräunliches Stimmungsbild und ich ein starkes grafisches Zeichen. Das benennt ja schon die unterschiedlichen Zugängen zum Thema „Pathos“. Wobei wir Dein Bild letztlich genommen haben. Und die Reaktionen der Leute auf unser Motiv haben Dir ja auch recht gegeben.
SV: Was hat ein grafisches Zeichen mit Pathos zu tun?
JLM: Pathos zielt auf immaterielle Eindeutigkeit, will Klarheit produzieren. Die über das Faktische hinaus in Bereiche des nur ästhetisch, spekulativ zu Erfahrenden reicht. Es ist eben nicht diese Schwiemeligkeit, mit welcher der Begriff heute besetzt ist. Die erste Runde im studio p unter dem Titel „Theater/Tod & Apokalypse“ begann dann mit Lorenz Wilkens, Religionswissenschaftler, und Detlev Schneider, Dramaturg und Kulturwissenschafter. Die wir beide nicht erst von der Wichtigkeit des Pathos überzeugen mußten. Laß uns mal reinhören:
{Es sind Stimmen zu hören in einem leicht hallendem Raum mittlerer Größe:}
Schneider: Man kann nicht über „Das Pathos“ an sich reden, sonst kommt man sofort zum Pathos auf dem Fußballfeld.
SV: Wie lassen sich denn das Pathos auf dem Fußballfeld und das Pathos in der Kunst strukturell unterscheiden?
Wilkens: Pathos verträgt Distanz – und ist nicht einfach das Aufgehen in einem Gefühl. Pathos ist immer gesellschaftlich verfaßt. Ein Kriterium für Pathos ist Reflexion – und das ist Sache der Kunstwerke. Pathos entsteht dann, wenn die Frage nach meinem Tod verallgemeinerbar ist. Woran sich die Frage nach dem Opfer knüpft.
Schneider: Pathos kann nur dann im Opferprozess realisiert werden, wenn die Adressaten sich aus ihren Gewissheiten herausreißen lassen, sie müssen also selbst etwas opfern. Diese Reziprozität ist möglicherweise eine Grundvoraussetzung für Pathos. Das ist der Unterschied zwischen Pathos und Sentimentalität, zumindest zwischen Pathos und Pathetik.
Wilkens: Das Opferritual ist eine kollektive Ektase mit der Aussicht, daß die Gesellschaft neu geboren wird. Wenn die „BZ“ auf den 11. Sept. mit Heldentod reagiert, wäre das genau der Verzicht auf Erschütterung.

Schneider: Die halbe Kustgeschichte redet von Apokalypse, und dann passiert mal ein bißchen Apokalypse und alle fallen über Stockhausen her, der gesagt hat, daß der 11. September das größte Kunstwerk unserer Zeit ist. Das Opfer ist eine performative Form, eine künstlerische Form. Einar Schleef hat, soweit ich weiß, das Wort Pathos nicht gebraucht…
JLM: Selten…
Schneider: … Was er aber meinte, war genau dieses Problem zwischen Individuum und Kollektiv, dass das in unserer Gesellschaft mit understatement belegt ist. Daß du als Individuum einem Chor, einer Masse gegenüber stehst.
SV: Pathos hat es von daher schwer, als es immer mit einer Auflösung, dem Aufgehen des Einzelnen im Allgemeinen in Verbindung gebracht wird. Die Frage nach dem Kollektiv, wie bei Schleef oder Müller, ist hier immer eine, die das Individuum in seinen Möglichkeiten einschränkt, den Rückzug auf eine exklusive und a-soziale Lebensgestaltung als illusorisch zurückweist. Das hat allerdings noch nichts mit Vergesellschaftung zu tun und der massenhaften Suche nach dem „wahren Selbst“. Die Suche nach einer überindividuell verbindlichen Praxis in der Kunst tendiert denn auch häufig zu einer autoritären Variante des Aufgehens in der Gemeinschaft, die keine Beobachterposition mehr zuläßt. Ist demgegenüber denn der spontane Ausdruck von Trauer pathetisch?
JLM: Sicherlich nicht. Aber das Bild dieser Trauer kann Pathos sein. Anders gesagt: Ich kann allein vorm Spiegel kein Pathos produzieren. Ich kann Formen davon einstudieren. Aber das ist kein Pathos. Ebenso ist nicht jede Massenemotion gleich Pathos. Pathos ist immer auch eine Formung von Material. Die drei Vektoren von Pathos, mit denen es in verschiedene Ebenen hineinragt und seinen Raum aufspannt, sind Form, Öffentlichkeit und Metaphysik.
Dabei, und das ist ein faszinierender Punkt an dieser Forschung, wirken diese Vektoren reziprok produktiv. Als Autor/Inszenator einer Tragödie im antiken Wettbewerb muß ich einerseits auf ein gewisses Feld von Formen, Ausdrucksweisen rekurrieren, das meine Zuschauer kennen. Gleichzeitig bin ich aber bestrebt, dieses weiter nach außen zu treiben, ins Unbekannte hinein. Agaves Tanz, nachdem sie erkennt, in dionysischer Verblendung ihren eigene Sohn enthauptet zu haben, in den „Bakchen“ des Euripides bspw., der es zu Lebzeiten ja nicht leicht hatte mit der Kritik wegen seiner Neuerungen und special effects, dieser Tanz wurde so populär, daß Profi-Darsteller damit als Solo-Nummer durchs Land zogen. Das Publikum hat also etwas erschütternd Neues darin erlebt, eine Formel von Pathos, die auch isoliert vom Rest der Geschichte funktioniert hat.
SV: Das hieße, es gibt im Pathos immer einen Spannungsbogen: Die Formel, die zeichenhaft zu lesen ist, und die auf kulturelles Vorwissen zurückgreift und gleichzeitig eine Erschütterung, die darüber hinausgeht und Momente der eigenen Geschichte aktiviert. Das wäre ja auch die klassische Definition bei Schiller: Pathos als Spannung zwischen der Forderung nach Vernunft und dem Ausdruck der Affekte.
JLM: Ja. Und Pathos beinhaltet daher stets auch Technik, Pathos ruht auf Technik auf. Das ist aber nur dann Einwand gegen Pathos, wenn ich einem bestimmten Begriff von Authentizität anhänge. Wenn ich glaube, daß im „Innersten“ des Subjekts ein Ort sei, wo dieses „ungebrochen“ mit sich selbst eins ist. Wo es ohne historische Einflüsse, Prägungen etc. sei, wo es irgendwie „echt“ ist. Das ist der vir bonus, den Kant schon gegen die Rhetorik, wie er sie verstand, ins Feld geführt hat – sich dabei übrigens sehr geschickt rhetorischer Mittel bedienend.
SV: Was für eine Art von Partizipation setzt Pathos voraus? Das erscheint mir eine zentrale Frage. Was unterscheidet es von Einfühlung oder Empathie? Es sind ja keineswegs alle Formen von Ergriffenheit durchweg pathetisch. Gerade weil Pathos immer mit Hochkultur konnotiert ist, wollten wir wissen, ob es Pathos im Kino gibt, ob das Melodram nicht das theatralische Pathos abgelöst hat. In keinem anderen Medium ist die Technik der Affektproduktion heute so ausdifferenziert wie im Film. Also haben wir die Redaktion von Nach-dem-Film eingeladen, die ihre neue Ausgabe gerade dem Thema „Tränen im Film“ gewidmet hatte:
Thomas Morsch: Tränen gehören noch zu den öffentlich sanktionierten Körperausscheidungen, dennoch sind sie dem Gegenüber meist peinlich. Damit ist auch klar, wo ich den eigentlichen Ort der Tränenausscheidung sehe, nämlich im Rahmen von Liebesbeziehungen, wo sie eine wichtige Funktion einnehmen. Was passiert, wenn im Kino geweint wird, und diese Situation von außen, im Kino, beobachtet wird. Tränen sind im 18. Jahrhundert erfunden worden, Werther weint auf den rund 100 Seiten circa 80 Mal. Bis heute gelten sie als authentischer Ausdruck der Seele. Tränen können sicherlich auch lügen und können instrumentalisiert werden. Bei Ovid sind Tränen ein Mittel der Verführung. Gegen dieses Wissen setzt sich im 18. Jahrhundert die Aufrichtigkeit der Tränen durch. Tränen in der Liebeskommunikation sind heiß, sie müssen getrocknet werden und erfordern eine spezifische Hermeneutik des Gegenübers: Es muss nach Gründen und Ursachen geforscht werden. Genau dies ist im Kino jedoch suspendiert. Im Kino können Tränen beobachtet werden, ohne selbst beteiligt zu sein. Im Kino können Tränen fliessen, ohne dass man sich dazu verhalten müsste und also kann man im Kino lernen, welche Tränen angemessen sind als Ausdruck – wie viel Tränen in welcher
Situation. Die Tränen in Kino haben noch eine andere Seite: Als Zuschauer weiß man, dass Tränen von Schauspielern produziert werden können. Die Unterscheidung von aufrichtigen und falschen Tränen ist im Kino also hinfällig. Sind dann aber die Tränen des Zuschauers gespielt oder aufrichtig?
Herrmann Kappelhoff: Schon im 18. Jahrhundert stellt sich diese Frage: Wie können Tränen Ausdruck von authentischem Gefühl sein, wenn es vor allem Tränen des Schauspielers sind. Der Schauspieler baut einen gestischen Körper, das Weinen ist jedoch das des Publikums. Das Weinen ist eine psychische Anreicherung, die bürgerliche Seele entsteht erst in diesem Weinen, indem sie, mit solchen Dingen wie z.B. Theater angereichert wird. Die Praxis der sentimentalen Unterhaltung setzt sich dann im Kino fort. In den ersten Melodramen geht es immer um das Zerbrechen der Liebesillusion: Die Frau, die erkennt, dass sie verlassen wird. Man schaut sich das an, um zu weinen. Die ersten Stücke waren Paradestücke für die Schauspielerin, sie waren ihr auf den Leib geschrieben. Ich habe das sentimental genannt und nicht Pathos, erst mal ging es darum den Kitsch affirmativ zu beschreiben. Im Kino machen wir die gleichen Übungen, sie haben einen sehr genauen historischen Ort in der westlichen Kultur. Im Theater verschwindet die transzendentale Seite, daß das Drama der verlassenen Ehefrau in Bezug auf eine Götterwelt stattfindet. Es bleibt das übrig, was wir
sentimental nennen. Man kann das als Entstehung unserer Seele begreifen. Da gibt es dann wiederum einen Bezug zur Psychoanalyse. In diesen randständigen Formen sentimentaler Unterhaltung steckt etwas, das sehr zentral zu unserem Leben dazugehört – das, was wir heute als unsere Innerlichkeit bezeichnen.

Michaela Ott: Im Kino ist das Gesicht kein persönlicher Ausdruck mehr, es führt uns aus dem individualisierten Subjektverständnis heraus. Deswegen spricht Deleuze von bestimmten Filmen, Antonioni u.a., in denen wir eine bestimmte neue Art der Kollektivität finden. Es geht um eine Entsubjektivierung, gerade im Kino der Nouvelle Vague. Das Kino scheint mir tatsächlich diese Stelle der bürgerlichen Identifikation zu besetzen. Ein dunkler Raum ohne personale Muster. Das Bild ist Affekt, das Bild selbst weint, es ist nicht mehr etwas anthropomorphes, es sind Sturzbäche, die die Natur rinnen lässt.
JLM: Die heutige Frage dazu wäre, inwiefern unser permanentes Umgebensein mit emotionalisierten Bildern die Ausdrucks- und Verständnismöglichkeiten unserer selbst prägen. Welche Sprache, welche Zeichen, welche Techniken werden da verwandt, in denen wir uns entwerfen und mittels derer wir uns kommunizieren, nach innen und außen. Und da wird’s für mich interessant, und macht mir auch mehr Spaß, wenn man grundlegend von Konstruktionen ausgeht. Die man sich anschaut, mit denen man kombinatorisch operieren kann. Daran ist deshalb ja nichts irgendwie weniger „real“ oder relevant. Wir sind halt genau das und damit fängt dann die Freiheit an. Daß Pathos, weil es mit Technik und Rhetorik verbunden ist, eine irgendwie künstlich vorgestellte Überwältigungskeule sei, ist demgegenüber die Fortführung genau dieses Authentizitätsgedankens, bzw. verkauft uns, im eigentlichen Sinne anti-aufklärerisch, für blöder und unfreier als wir sind. Dann werden wir zu willenlosen Automaten, wo irgendjemand oder irgendetwas nur die richtigen Knöpfe zu drücken braucht und schon marschieren wir los.
Wenn man Pathos so dämonisiert, nimmt man uns einfach in letzter Konsequenz auch alle Verantwortung ab: Wir konnten nicht anders – die Rede, der Film war einfach überwältigend. Zwischen Pathos-Rezeption und Handlung liegt aber immer noch das ganze Subjekt. Genauer: Erst, wenn ich die Spannbreite von Pathos bis analytischer Rationalität ganz durchlaufen kann, habe ich das Subjekt wirklich in seinem vollen Umfang realisiert. Es gibt schlichterdings gelingendes und mißlingendes Pathos. Was die Griechen „bathos“ nannten. Abhängig vom Anlaß, bei dem ich es anwende und dem Setting.
S.V. Aber geht man nicht gerade auch ins Kino oder ins Theater, um sich überwältigen zu lassen? Das ist die Freiheit, die ich als ZuschauerIn habe. Das ist auch der spezifische Genuß, so maschiniert zu werden oder dich derart besetzen zu lassen. Aber das betrifft alle Affekte und es geht um die Frage, ob Pathos eben eine Form ist, die an die Darstellung von Leiden gebunden ist. Ich würde also im Pathos meine Leidensfähigkeit genießen. Das war auch der Ausgangspunkt für unsere Diskussion mit dem Psychopathologen und Philosophen Christian Kupke. Pathos als Brückenbegriff zwischen Pathologie und Passion:
Kupke: Pathologie ist ein Begriff, der im vorletzten Jahrhundert geprägt worden ist, als man sich überlegt hat, was eigentlich Krankheit ist. Der eine Aspekt des Begriffs „Pathos“ deckt eigentlich Krankheit ab: Pathos, im Sinne von lateinisch passio, heißt leiden, krank sein. Der weniger starke Aspekt, auch passio, meint passiv sein, etwas erleiden. Dann hat sich ein Begriff von Pathos herausgebildet, der eigentlich Affektivität meint. Der deutsche Begriff „Leidenschaft“, der im 17. Jahrhundert aufgekommen ist, versucht das zu verbinden, das Leiden und die Leidenschaft.
Die Kranken, diejenigen, die leiden, reagieren affektiv und zeigen uns, das sie nach außen treten wollen, was uns anrührt und abschreckt. Der negative Aspekt kommt aus der Schwierigkeit von der Verbindung von Erleiden und krank sein, aus der Tatsache, dass Affektivität immer etwas mit der Möglichkeit zu tun hat, gestört zu sein. In der Psychiatrie spricht man auch von gestörter Affektivität.
Mich interessiert dabei die historische Frage: In der Geschichte Deutschland gibt es eine politische Dimension des Pathosbegriffs. Das hat damit zu tun, dass im Nationalsozialismus Pathos in bestimmter Weise transportiert worden ist. Wenn sie die Reden des Führers anhören, werden sie feststellen, wie eine ganze Nation mit nationalem Pathos belegt worden ist. Das ist eine historische Konstante, der man nicht ausweichen kann.
Ich habe mir angeschaut, wie diese politische Komponente auch heute noch virulent ist. Als man 1957 wieder eine Armee aufgebaut hat, gab es Plakate, die mit dem Slogan „Armee ohne Pathos“ geworben haben. In der Südwestpresse aus Ulm habe ich darüber unlängst gelesen: „Ohne das übliche Pathos früherer Zeiten rückten sie am 1. April in die Kasernen ein, die ersten 9773 Rekruten vom Jahrgang 1937.“ Es gibt ein Bild von Baselitz von 1965, mit dem Titel „Das große Pathos“, das zerissene Leiber und zerstörte Panzer nach einer Schlacht darstellt. Offensichtlich rekurriert Baselitz auf diese historische Erfahrung. Pathos ist also in diesem
Sinne bis heute ein Politikum.
JLM: Trotzdem beharre ich darauf, daß Pathos nicht nur negative Emotionen meint. Das war ja auch immer ein Thema in unseren Sessions, daß Pathos heute meist nur als Leidensdarstellung verstanden wird. Neben dem páthos der Tragödie aber, dem wesentlichen Schicksalsschlag, der den Helden ereilt, benennt Aristoteles für die Rhetorik auch einen ganzen Katalog von pathe, großen Affekten, wenn man das so übersetzen will. Und die meisten davon sind in Paaren gedacht: Liebe ebenso wie Haß, gerechter Unwille wie Jähzorn etc. Pathos bezeichnet also eine Größe der emotionalen Reaktion, nicht deren Wertung von positiv/negativ. Und wenn ich eins noch sagen darf: Das Ganze wird erst recht anthropologisch, wenn ich hinzunehme, daß der griechische Begriff páthos zunächst „das Zustoßende“ bezeichnet. Daß dem Subjekt von außen etwas widerfährt. Und in bestimmten Modellen der aisthesis, der Sinneswahrnehmung, stellte man sich, ebenso wie wir heute, nur in anderen Bildern, vor, daß das wahrnehmende Subjekt
von außen mit Teilchen affiziert wird – um sehen, hören, überhaupt empfinden zu können. So betrachtet ist Pathos
also die Grundvoraussetzung menschlicher Weltwahrnehmung.
Kupke: In der Psychopathologie ist diese Freiheit nicht gegeben: Menschen erleiden eine Traumatisierung, aufgrund derer sie nicht mehr über ihre Affekte verfügen können.

JLM: Insofern wären die abweichenden Äußerungsformen derjenigen, die dadurch ins Blickfeld der Psychopathologie geraten, zu höchster Intensität gesteigerte Bemühungen, sich mitzuteilen. Worin sie aber scheitern. So wie Pathos immer auch Appell an einen anderen ist, sich zu verhalten.

Kupke: Ja, kann man so sehen. Wir sind ja in uns selbst verdoppelt, immer schon auf den anderen gerichtet.
JLM: Das berührt, was ich mit dem metaphysichen Vektor des Pathos im erweiterten Sinn meine – als die Auseinandersetzung mit Fragen, die über das konkret Gegebene hinausgehen. Da fallen einem fürs Individuum zunächst Liebe und Tod ein; für Gemeinschaften und Gesellschaften sind das die Fragen nach ihrem Zusammenhalt: Was macht uns handeln, was gibt uns einen Horizont über die unmittelbare Reaktion hinaus? Und das ist für mich ein ganz zentraler, politischer Aspekt des Pathos. Wie Bloch gesagt hat: Es gibt keine Utopie ohne Metaphysik. Wenn ich keine Visionen entwickeln kann, die über das Gegebene hinausragen, werde ich auch nie in der Lage sein, zum Gegenwärtigen, als ungenügend Erkanntem, Alternativen zu entwerfen. Und ohne solche Visionen wird man auch keine Bewegung in Gang setzen, die etwas ändert. Das ist Pathos. Das andere dazu sind die selbsttätigen Systeme der Verwaltungen, der Wirtschaft und der ihr untrennbar verkoppelten „Sach-Politik“. Die aus ihrer Binnenlogik heraus
auf unsere Körper und Gesellschaften Realitäten projizieren. Die wir zur Zeit alle glauben. Denn diese Systeme operieren ja unterm Mantel nicht-pathetischer „Rationalität“. Muß also stimmen, was wir da sehen. Die Realitätsproduktion, die als Grundlage dieser „Rationalität“ immer schon stattgefunden hat, wird in gegenwärtig aber kaum hinterfragt. Leider.
SV: Ist es nicht vielmehr so, daß nach dem Scheitern der politischen Utopien mehr und mehr die Kunst einstehen soll als Raum einer symbolischen Identifizierung und vor allem die abstrakten Gemeinschaftssehnsüchte und Ganzheitsbestrebungen auffangen soll, die gerade deswegen entstehen, weil sich die Individuen schon längst außerhalb dessen entwerfen, was Gesellschaft ist. Sie sind ja längst schon nur noch die Umwelt für diese selbsttätigen Systeme.
Aber gerade darin liegt ja auch das Problem für die Möglichkeiten von Pathos, wenn Du von Öffentlichkeit sprichst. Die Selbstdefinition läuft ja großenteils über Ausdifferenzierung, die ihren Gewinn aus der Abstoßungsenergie zieht, also gerade auf „ganzheitliche“ Teilnahme verzichtet. Das hat ja Kappelhoff sehr schön beschrieben, wie Innerlichkeit ein Produkt der Kultur der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts ist. Man kann von der Konstruktion des Subjekts sprechen – die Rede von der „Selbstproduktion“ als Modus der Individualisierung in den westlichen Gesellschaften hat sich ja längst durchgesetzt – und dennoch ist gerade dann die Frage, wie Pathos im Unterschied zu sentimentaler Unterhaltungskultur funktioniert. Die Differenz zwischen diesen unterschiedlichen Formen der Ergriffenheit ist doch gerade spannend. Und dann muß man sich eben die einzelnen Sachen anschauen. Es ging ja in der Pathosforschung nicht um eine neue Definition des Begriffs, eher um die Frage nach der Unterschiedlichkeit von Zugängen im Umgang mit großen Gefühlen. Und wichtig war uns das deiktische Moment daran, daß die Leute einen Filmausschnitt, einen Text oder ein Bild mitbringen und formulieren, was für sie daran pathetisch ist. Die Vielfalt der Beispiele verweist auf schon auf die Heterognität des Begriffs: Ein Bild von Tizian, ein Film von Pasolini, ein Melo von Almodovar oder aber ein Gedicht von Ginsberg:

Thomas Irmer, Literaturwissenschaftler und Redakteur: Die Lyrik von Ginsberg bedient sich eines besonderen Pathos. Das war ein Aufbruch in der Lyrik der Moderne, der mit einem amerikanischen Pathos zusammenhing, ein Pathos der Selbstfindung dieser Nation. Das trifft nicht genau die Staatsgründung der USA, sondern die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Walt Whitman, da war das ein Strom in der amerikanischen Lyrik, der bis heute vorhanden ist. Andererseits kennt man die amerikanische Lyrik als der Alltagssprache besonders verbundene, eine Lyrik, die ihre ganze Kraft aus der Alltagssprache zieht. Dieser Spannungsmoment ist sicherlich interessant. Die Bedingungen für Pathos in der Literatur sind eigentlich so weit verschwunden, das es das heute gar nicht mehr geben dürfte. Das hat vor allem mit dem Kommunikationsverhalten zu tun. Pathos ist in andere Bereiche verschwunden und aus dem literarischen Wort verdampft.
Das Ansprechen von Leserschaft ist so anders geworden im 20. Jahrhundert, die Techniken und Strategien der Autoren haben sich so gewandelt, daß Pathos verunmöglicht wurde. Mein Beispiel ist ein akustisches, eine Lesung seines Gedichts „America“ von Ginsberg selbst. Das Konzept wäre hier das eines brechenden Pathos – einerseits wird ein ganzer Kontinent angesprochen, nicht direkt Anklage, aber ein befragender Dialog, der von Schmerz und Überhöhung gekennzeichnet ist, andererseits ist die Sprache quasi vulgär, gleich in der vierten Zeile: „Amerika, go fuck yourself with your atomic bomb.“ Zwischen diesen beiden Bereichen: Ein hohes Pathos, das eine riesige Nation anspricht und gleichzeitig die Beziehung zu ihr verwirft, das wäre das Konzept des brechenden Pathos, das kann man für die pathosforschung geltend machen.
SV: Pathos 1:1 ist also ohne die Einbeziehung des Stotterns oder der Verwerfung in der Moderne nicht denkbar. Die Frage ist, ob Pathos immer national konnotiert ist?

Irmer: Die Bedingungen von Pathos sind national konnotiert. Deswegen ist es für die deutsche Nachkriegsliteratur auch gar nicht möglich, im Gegensatz zum Osten, wo Becher noch hymnisch dichten konnte.
JLM: Das sehe ich insofern ähnlich, als daß Westdeutschland sich auf eine explizit antipathetische Haltung gegründet hatte. Nichtsdestotrotz wird von heute aus besehen deutlich, daß die Nachkriegsliteratur, die sich selbst entgegen der Nazi-Kultur und gerade auch im Angesicht des persönlich Durchlittenen gewollt antipathetisch entwarf, auch ihr eigenes Pathos hatte. Aber eben ein Pathos der Sachlichkeit, wenn man sich bspw. Günther Eich oder Rose Ausländer anschaut.
Insofern wäre das heutige „deutsche Problem“ mit Pathos vielleicht eine Reaktion auf diese historischen Abfolgen. Die untergründige Verfallstendenz des Pathos setzt aber bereits im Barock ein mit dem Verlust des öffentlichen Ortes der Rede und der Stauung, die zum Überborden der elocutio führt. Kräfte, die von Nazideutschland beerbt, reaktualisiert und sich zu eigen gemacht werden.
Während Westeuropa dann den Weg der Entpathetisierung gegangen ist, der Ausleerung emotional basierter Identitätskonstrukte, wurde das im Sozialismus wohl anders abgedeckelt, eher in Richtung auf einen Zwangsinternationalismus. Daß das Verdrängte mit umso größerer Macht wieder zutage tritt, ist dann nicht so erstaunlich. Mir wird das anschaulich, wenn ich „Laibach“ und „Rammstein“ miteinander vergleiche: Laibach sind in den 80ern bereits als Band aus dem Konzept von „NSK“ hervorgegangen, einer Künstlergruppe, die in verschiedenen Erscheinungen Nationalismus thematisieren und faschistoide Prozeße, Zwangshomogenitäten. Und die als Slowenen mit historisch konnotierten deutschen Texten und Zeichen reflektiert Tabubruch begehen. Rammstein, als ehemals ostdeutsche Musiker, haben nach der Wende die äußere Erscheinung dieses Konzepts ihrer Pakt-Brüder kopiert – und feiern damit nicht nur hier, sondern vor allem auch in den USA riesige Erfolge. Zweifellos ein Fall von bathos. Aber ein sehr erfolgreicher.
Tiefer gelegt glaube ich aber, daß es daran liegt, daß unsere Gesellschaften so organisiert sind, daß sie eigentlich keine Emotionen brauchen. Sie brauchen sie natürlich, um die Sache am Laufen zu halten, um möglichst vollständig die ganzen Subjekte in ihre Prozesse einzubinden. Unsere Gegenwart ist ja kein Metropolis-Zustand. Aber sie brauchen nicht mehr die emotionale Affirmation. Höchstens die Angst vor Veränderung oder Fremdem. Es gibt scheinbar keine Entscheidungsfreiheit mehr, ob man so oder so leben möchte. Wir leben bereits in der besten aller Gesellschaften und peu a peu werden wir unsere Segnungen auch dem Rest beibringen. Während wir dafür sorgen, daß die Konsequenzen dessen nicht bis zu uns zurückdringen können.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß in der ihrerseits globalisierten Antiglobalisierungsbewegung dann wieder mit Pathos aufzuladende Bilder entstehen – wie bspw. der sich selbst verbrennende Reisbauer an der Polizeisperre des Kongreßzentrums oder der von Polizei getötete italienische Demonstrant. Einzelne werden zu Opfer-Helden im Kampf gegen ein gesichtsloses Gegenüber. Vielleicht sind das Anzeichen dafür, daß die möglichst flachen, scheinbar unideologischen Sinnstiftungen unserer Gesellschaften eine Lücke lassen, die allmählich spürbar wird.
Gegenwärtig aber sehen wir die Westeuropäisierung des Kontinents, ein Prinzip der scheinbar ideologiefernen Ideologien, das weiterwandern wird. Unsere Ideologie, falls man das noch so nennen kann, ist die totale Durchdringung des Subjekts. Die ökonomischen und medialen Ströme dringen bis in seine letzten Höhlen vor, um diese dann von innen heraus, Pore für Pore zu öffnen. Bis es gänzlich als singuläre Batterie, aufgrund ihres Oszillierens zwischen Sehnsuchstproduktion und Bedürfnisbefriedigung, der Matrix insgesamt Energie zuführt. Und darin sind alle Subjekte einzubinden, auch deren Abweichungen und auf ihrer Verschiedenheit beharrende Ethnien.
Aufs Pathos bezogen heißt das: Wir leben zur Zeit in einem Zustand der Hysterisierung von Gesellschaft. Es werden in möglichst großer Dichte unendlich viele Informationen zugeführt, die alle powered by emotions sein müssen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Dies führt bei uns als Rezipienten zu einem katatonischen Zustand – einer hysterisierten Bewegungsunfähigkeit. Diese Emotionalisierung pegelt aber alles in einem mittleren, vorhersehbaren Bereich ein. Und ist darin systemkonform. Pathos hingegen wäre die Unterbrechung dessen, der krasse Ausschlag des Pegels über die Skala hinaus. Was Hölderlin als Umkehrung der Zeit beschreibt.